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Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Stellungnahme als PDF

Stellungnahme der Kommission Kinderschutz im Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V. (Bündnis KJG)

Wir bedanken uns für die Möglichkeit, zu dem oben genannten Referentenentwurf Stellung zu nehmen.

Das Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit (Bündnis KJG) ist ein Zusammenschluss der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften und Fachverbände Deutschlands, Kinderkrankenpflege und Elternverbände. Das Bündnis KJG koordiniert die gemeinsamen Ziele und Aufgaben seiner Mitglieder zum Wohle von Kindern und Jugendlichen und vertritt diese Ziele nach außen gegenüber Gesellschaft und Politik. Mitglieder sind: Aktionskomitee Kind im Krankenhaus Bundesverband e. V. (AKIK), Berufsverband der Kinderkrankenpflege Deutschlands e.V. (BeKD), Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e. V. (BVKJ), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (bkjpp), Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie e. V. (DGKCH), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ), Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ), Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland e. V. (GKinD), Kindernetzwerk e. V. (knw), Verband Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands e. V. (VLKKD).

Diese Stellungnahme wurde von der Kommission Kinderschutz des Bündnisses erarbeitet. In dieser Kommission ist als ständiger Gast die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin (DGRM) vertreten.

Sexuelle Gewalt führt bei Kindern und Jugendlichen zu negativen gesundheitlichen Folgen und zur Beeinträchtigung ihrer Entwicklungschancen und gesellschaftlichen Teilhabe, sodass wir das Gesetzesvorhaben insgesamt sehr begrüßen und erwarten, dass es wesentlich zur Bekämpfung von sexueller Gewalt und Minimierung der Folgen dieser Gewalt beiträgt. Insbesondere begrüßen wir die Verstetigung der Arbeit einer / eines Unabhängigen Beauftragten (§ 4 ff), des Betroffenenrates (§ 14), der Unabhängigen Aufarbeitungskommission (§ 15) sowie des Beratungsangebotes für die individuelle Aufklärung von sexueller Gewalt (§ 3).

Wir unterstützen die Verstetigung der Medizinischen Kinderschutz-Hotline als Beratungsangebot für alle im Gesundheitswesen und in der Jugendhilfe tätigen Fachkräfte und Familienrichter*innen sowie die Stärkung von Schutzkonzepten in allen Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut werden. Die Beauftragung einer im Hinblick auf Gesundheitskommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, sexuelle Aufklärung, Kinderschutz und Fehleranalysen erfahrenen Institution wie der BZgA zur Entwicklung und Verbreitung von Konzepten und Materialien zur Aufklärung, Sensibilisierung und Qualifizierung zum Schutz vor sexueller Gewalt schließt eine wichtige Lücke.

Wir begrüßen, dass der Entwurf darüber hinaus eine Erweiterung der verpflichtenden Anwendung von Schutzkonzepten beinhaltet – eine verbindliche Qualitätsentwicklung und -sicherung zum Gewaltschutz soll nicht mehr nur auf Einrichtungen und Familienpflege beschränkt sein, sondern sich auf alle Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendhilfe beziehen.

In diesem Kontext bitten wir die Belange von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen zu berücksichtigen und die damit verbundenen Rückmeldungen der Familien im Kontext der Inklusiven Lösung / Kinder- und Jugendhilfereform. (https://www.kindernetzwerk.de/downloads/ThinkTank_Inklusives-SGB-VIII_231207_final.pdf?m=1710234534&)

Wir bitten jedoch um Ergänzungen oder Präzisierung an einigen Stellen:

Kooperation

Wir möchten ausdrücklich darum bitten, bei den oben genannten Einrichtungen und Beauftragungen darauf zu achten, dass die Zusammenarbeit mit derzeit bereits bestehenden Einrichtungen, Initiativen und Forschungsaktivitäten in dem Gesetz angesprochen wird, bzw. ein Kooperationsgebot ausgesprochen wird. Dieses betrifft in besonderer Weise die zwingend notwendige enge Zusammenarbeit mit den Akteuren im medizinischen Kinderschutz. Eine Doppelung von Angeboten wäre kontraproduktiv, eine Bündelung und Nutzung von Synergien dagegen sehr wünschenswert.

Es bestehen zahlreiche Beratungsangebote innerhalb der Jugendhilfe zur Unterstützung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt. Zu nennen sind zum Beispiel die Kinderschutzzentren, als auch Einrichtungen im Gesundheitswesen wie die rechtsmedizinischen Ambulanzen, Kinderschutzambulanzen, Kinderschutzgruppen an Kliniken und weitere Angebote, z. B. auch im öffentlichen Gesundheitsdienst. Insbesondere in den Bereichen der Kinder- und
Jugendmedizin, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie der Kinderchirurgie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie Rechtsmedizin werden hochspezifische diagnostische und therapeutische Angebote vorgehalten, die ihrerseits eng mit den in diesem Gesetz geplanten Einrichtungen zusammenarbeiten. Wir dürfen diesbezüglich auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) hinweisen. Sowie, aus Perspektive der Familien bzw. Selbsthilfe, auf die Stellungnahme „Handreichung für die Ausbildung von Kinderschutzfachkräften und insoweit erfahrenen Fachkräften im inklusiven Kinderschutz“ des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V., der erstmalig einen Praxisleitfaden für die Weiterbildung von Fachkräften im inklusiven Kinderschutz erarbeitet hat. (https://bbpflegekinder.de/aktuelles-und- termine/neuigkeiten/handreichung-fuer-die-ausbildung-von-kinderschutzfachkraeften-und-
insoweit-erfahrenen-fachkraeften-im-inklusiven-kinderschutz/?highlight=Kinderschutz)

Kinder mit Behinderungen oder chronischen Gesundheitsstörungen

Kinder mit Behinderungen oder chronischen Gesundheitsstörungen werden überzufällig häufig Opfer von sexueller Gewalt. Sicherlich sind sie in diesem Gesetz immer mitgemeint, aber aufgrund ihres vermehrten Unterstützungsbedarfs bei der Eröffnung von sexuellen Gewalterfahrungen aktuell oder in der Vergangenheit und in der Aufarbeitung wäre eine zielgerichtete Erwähnung in dem Gesetz wichtig. Wir empfehlen daher auch, in die Nennung von relevanten vorhandenen Gesetzen auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufzunehmen. Insbesondere empfehlen wir auch, auf das Ziel einer individuellen Beratung hinzuweisen, die in einer Verbesserung der Lebensqualität, Bewältigung von Traumatisierung und verbesserter Teilhabe zu beschreiben ist.

Die Nutzung von Ressourcen zur Stärkung der Teilhabe nach SGB IX sollte explizit mit bedacht werden. Während die Orientierung der Jugendhilfe als Rehabilitationsträger hier klar ist, ist das Tätigkeitsfeld des / der Unabhängigen Beauftragten hier nicht gut genug eingebunden. Neben der Aufarbeitung von Schuld und Anerkennung des Leidens ist eine zukunftsgerichtete Orientierung auf evidenzbasierte und menschenfreundliche Maßnahmen zur sozialen Teilhabe für die Betroffenen sehr wichtig.

Zusammenhang von sexueller Gewalt mit anderen Formen der Gewalt gegen Kinder

Sexuelle Gewalt tritt selten isoliert auf, in der Regel ist sie vergesellschaftet mit körperlicher und seelischer Gewalt, insbesondere aber auch seelischer Vernachlässigung. Wenngleich wir davon ausgehen, dass bei allen Stellen und Einrichtungen, die in diesem Gesetzentwurf genannt werden, dieser Zusammenhang bekannt ist und die zuständigen Akteure und Fachkräfte jeweils einen ganzheitlichen Blick auf mögliche Traumatisierungen haben,
empfehlen wir dringend, diesen Zusammenhang auch im ausformulierten Gesetzestext und in den entsprechenden Begründungen zu thematisieren. Die erfahrene sexuelle Gewalt sollte nicht herausgelöst werden aus einer Gesamtsituation, weil damit ggf. wichtige diagnostische und therapeutische Optionen nicht erkannt werden. Auch in diesem Kontext ist eine enge Zusammenarbeit mit Institutionen, Fachkräften und Selbsthilfeverbänden geboten, die Kinder und Jugendliche nicht nach der Art der erfahrenen Gewalt in Gruppen aufteilen, die der Lebenserfahrung und -realität der Betroffenen nicht gerecht wird.

Forschung

Weitere Maßnahmen betreffen die Einrichtung eines Forschungszentrums für Forschung zu sexueller Gewalt. Wir unterstützen sehr die Schaffung neuer Informationsstellen, die das Geschehen um sexuelle Gewalt gegen Kinder fortlaufend einem Monitoring unterziehen und die die Wirksamkeit öffentlicher Maßnahmen evaluieren. Jedoch gilt auch hier, den ganzheitlichen Blick auf verschiedene Gewalterfahrungen zu bewahren und nicht die sexuelle Gewalt aus dem Kontext herauszulösen. Insofern empfehlen wir, die vorhandenen Datenerhebungssysteme zu nutzen. Dazu gehören die Erhebungen der Jugendhilfe (siehe Kinder- und Jugendstärkungsgesetz), die Krankenhausstatistiken und andere verfügbare Daten aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, der Länder und der Kommunen.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschung empfehlen wir eine Koordinierung der Forschungsaktivitäten mit den vielfältigen Ressortforschungsprojekten des BMFSFJ, des BMG und des BMFG sowie der DFG und Projekten der stiftungsfinanzierten Forschung. Nicht immer wird neues Forschungswissen wahrgenommen und auf die Versorgungsrelevanz überprüft. Wir begrüßen die Einrichtung eines Forschungszentrums zu sexueller Gewalt, das neben eigenen Monitoringaufgaben auch die Bündelung verfügbaren Wissens zur Aufgabe haben soll. Dieses sollte verbindlich mit der beauftragten BZgA in der Entwicklung und Verbreitung von Konzepten und Materialien zur Aufklärung, Sensibilisierung und Qualifizierung zum Schutz vor sexueller Gewalt zusammenarbeiten.

Kinderschutz-Hotline (Artikel 3, Änderungen des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz § 6)

Wir möchten darum bitten, Ärztinnen und Ärzte aus dem Fach Kinderchirurgie in die Gruppe der Experten im medizinischen Kinderschutz zu benennen Der § 6 Abs. 3 regelt, durch welche Berufsgruppe die telefonische Beratung im medizinischen Kinderschutz erfolgt, und gibt entsprechende Qualifikationen an. Dort fehlt im jetzigen Entwurf die Fachgruppe Kinderchirurgie.

Die Kinder- und Jugendchirurgie gehört wie die Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie zu den drei spezifisch Kinder und Jugendliche versorgenden Fachgebieten in Kliniken, Notfallambulanzen und Arztpraxen. Kinder- und Jugendchirurginnen und -chirurgen sind wesentliche Teilnehmer an Kinderschutzgruppen an Kliniken und haben hier auch Leitungsfunktionen. Insbesondere die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Verletzungen erfolgt zumeist von Kinder- und Jugendchirurginnen und -chirurgen.

Auch bei sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind sie wesentliche Partner im Kinderschutzteam, insbesondere weil sexuelle Gewalt häufig auch im Zusammenhang mit anderen Formen der Gewalterfahrung auftritt. Die Expertise und Verbreitung des medizinischen Kinderschutzes im Bereich der Kinder- und Jugendchirurgie spiegelt sich auch in der Anzahl der zertifizierten Kinderschutzmedizinerinnen und Kinderschutzmedizinern der DGKiM aus diesem Bereich wider. Unter den derzeit 310 zertifizierten Ärztinnen und Ärzten (100%) kommen 69% aus dem Fachgebiet Kinder- und Jugendmedizin, gefolgt von 15% aus der Kinderchirurgie, 7% aus der Rechtsmedizin und 7% aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie; die übrigen 2% der zertifizierten Ärztinnen und Ärzte gehören anderen medizinischen Fachdisziplinen an. Durch die in § 6 Abs. 3 zusätzlich beschriebenen Qualifikationen der beratenden Fachkraft ist geregelt, dass diese auch insoweit erfahrene Ärztinnen und Ärzte sind. Der Ausschluss von Ärztinnen und Ärzten aus dem Bereich der Kinderchirurgie im derzeit vorgeschlagenen Gesetzesentwurf bedeutet, dass die Ressourcen und die Expertise von insoweit erfahrenen Kinderchirurginnen und Kinderchirurgen nicht genutzt werden. Wir bitten um entsprechende Berücksichtigung.

In § 6 werden in Absatz 1 „Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Hebammen oder Entbindungspfleger oder Angehörige eines anderen Heilberufes“ aufgeführt, denen das telefonische Beratungsangebot kostenlos und vertraulich zur Verfügung gestellt werden soll.

Wir möchten darum bitten, dass hier explizit „Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger“ und „Pflegefachfrau oder Pflegefachmann mit entsprechendem Hinweis auf den durchgeführten Vertiefungseinsatz pädiatrische Versorgung“ aufgenommen werden. Insbesondere in den Kinder-Notaufnahmen sind Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Kinderkrankenpfleger oder Pflegefachfrauen bzw. Pflegefachmänner mit entsprechendem Hinweis auf den durchgeführten Vertiefungseinsatz pädiatrische Versorgung diejenigen, die eine Behandlungsbedürftigkeit und Dringlichkeit der Behandlung mittels einer Triage feststellen. Sie haben eine entsprechende Expertise, Hinweise auf körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt und Vernachlässigung zu erkennen und sollten das telefonische Beratungsangebot nutzen können, um sich im weiteren Vorgehen Rat und Unterstützung zu holen. Das Beratungsergebnis kann auch unmittelbaren Einfluss auf das Ergebnis der Triage haben im Sinne einer höheren Priorisierung. Wir bitten um entsprechende Berücksichtigung bei den Änderungen des KKS.

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